Dr. Stefanie Dathe // Eröffnungsrede der Ausstellung „Eintauchen“ in der Sparkassengalerie, Ravensburg. 2014

Eröffnungsrede der Ausstellung „Eintauchen“ in der Sparkassengalerie Ravensburg, 2014

von Dr. Stefanie Dathe, Museum Ulm

 

22. September 2014

Nach über 20 Jahren Tätigkeit im Ausstellungswesen und knapp 200 Eröffnungsreden habe ich mir letzte Woche im Hinblick auf die heutige Vernissage wieder einmal die Frage gestellt, wie ich Ihnen, verehrte Gäste, das EINTAUCHEN in das Werk der Malerin Nicole Bold  ermöglichen kann.

Ich möchte Sie nicht mit biografischen Eckdaten, exemplarischen Bildbeschreibungen, material- und stiltechnischen Details langweilen oder gar die Bildsprache der Künstlerin in einen kunsthistorischen Kontext einordnen, sondern zunächst hypothetisch fragen:
Wie sähe das, was Kunst ist und was wir Kunst nennen, für jemanden aus, der keine Ahnung davon hat?
Dieser Ahnungslose wird erst einmal bemerken, dass die Gegenstände, um die es sich handelt, eine besondere Bedeutung zu haben scheinen, dass sie an besonderen Orten versammelt sind und gezeigt werden, dass sie sorgsam behütet und aufbewahrt werden, dass die Menschen sich ihnen in besonderer Weise widmen, sie verehren. Auf jeden Fall würde der Ahnungslose staunen und vermuten, dass es sich um Dinge kultischen Charakters und Kostbarkeiten handeln muss.
Vordergründig betrachtet ist dieser naive Standpunkt natürlich unfruchtbar. Denn niemand in unserer Gesellschaft begegnet dem Phänomen Kunst gänzlich unvorbereitet. Es gehört ja längst zu unser aller Erziehung, zu wissen, dass es Kunst gibt, dass sie ein wichtiger kultureller Baustein der Menschheit ist, einen repräsentativen geistigen Ausdruck der Zeit bildet, Grundfragen des Seins thematisiert und daher alle angeht.
Wir lernen, dass das, was Kunst ist, neue Erfahrungen und Erkenntnisse vermittelt, die von der Allgemeinheit erst in einem langsamen Aneignungsprozess nachvollzogen werden.
Und wir lernen, spätestens wenn wir an Museumsführungen teilnehmen, dass das heutige Kunstwerk, weil es ganz frei aus sich selbst heraus existiert, über sich hinausweisende Wahrheiten eröffnet. Obwohl wir dies alles wissen, obwohl wir mit Gegenständlichkeit und Abstraktion, den Gattungen und Stilen vertraut sind, trifft uns manchmal angesichts ungekannter künstlerischer Ausdrucksformen das fragende Staunen des Ahnungslosen.
Während in den höfischen Bildergalerien vergangener Jahrhunderte der Besucher eine Art Insiderperspektive einnahm, wenn ihm ein Bild auf der Staffelei zur Ansicht von einem Kenner präsentiert wurde, ist der Betrachter eines Kunstwerkes heute gänzlich auf sich selbst verwiesen.

Auch angesichts der Kunst von Nicole Bold bleiben wir ganz auf uns gestellt, auf unser rein anschauendes Vermögen und unsere unvoreingenommene Fähigkeit, die Lage, Anordnung und Gestalt der Farbflächen, Bewegungen und Formen zu entschlüsseln.

Nicole Bold, verehrte Damen und Herren, hat sich ganz der Malerei verschrieben.

Bei unseren intensiven Gesprächen vor drei Wochen in ihrem Mittelbiberacher Atelier habe ich sie als eine Künstlerin kennen gelernt, die mit unbeirrter Leidenschaft immer auf der Suche nach dem vollendeten, gültigen Bild die Themen ihres gestalterischen Interesses verfolgt.
Nicole Bolds Malerei wirkt durch die Präsenz der Farbe und ihre Ausdehnungen, welche allein durch kontrollierte Bewegungen in der Fläche gebunden sind. Seismographisch folgt der Duktus ihrer Handschrift ersten Regungen, um diese bald wieder zurück zu nehmen, zu überarbeiten oder zu verwerfen. In einem ambivalenten Spannungsfeld zwischen rhythmischem Gestus, virulenten Gebärden und punktuellen Setzungen, zwischen filigranen Lineaturen, zeichnerischen Pinselspuren  und ausgedehnten Flächenverbänden entwickelt sich eine Bildsprache, die sich dem unmittelbaren Zugriff entzieht, die Spuren verwischt, Gewissheiten überdeckt und dennoch den Werkprozess konserviert.
In einem offenen Spektrum zwischen hell durchlichteten und pastellig getrübten Farbakkorde, Schwarz und Weiß, Kalt und Warm, zwischen pastosem Auftrag und entrückter Lasur verdichtet sich Nicole Bolds sinnlich stoffliche Malerei zu Bilderscheinungen von verführerischer Anziehungskraft  und mysteriöser Tiefenräumlichkeiten, die sich frei hält von der perspektivischen Verortung eines Horizonts. Eine Anziehungskraft, die sich über die Rätselhaftigkeit der Formen und Gesten erhebt und die gesammelte Energie des Arbeitsprozess zu überwinden, ja zu transzendieren scheint.

Als wesentliches Ausdruckselement arbeitet Nicole Bold mit Überlagerungen und Schichtungen, die sich umspülen und  durchdringen. Das Zudecken, das Farbe gewöhnlich auf einem Malgrund bewirkt, bei Nicole Bold wird es zugleich zum Aufdecken eines ambivalenten Vorgangs der Bildwerdung, der sich zwischen intuitivem Gestus und Ziel gerichteter Formsetzung entfaltet. Als sei das Bildgeviert ein Fenster treiben an- und abschwellende Linienverläufe, wolkige Firmamente und bewegte Formgefüge über die Bildflächen und über diese hinaus, um immer in der Staffelung ihrer Übermalungen ahnungsvoll durchschaubar zu bleiben. Die Leinwände, sie erscheinen wie durchlässige Membranen, in denen sich die handschriftlichen Setzungen nach den Gesetzen einer sinnlichen Osmose gegenseitig durchdringen.

Verehrte Gäste,

In einer Zeit, in welcher die Strategien der Konsumindustrie Ausstellungen in kommerzielle Unterhaltungsspektakel verwandeln, den Künstler zum Animateur und die Kunst zum imageträchtigen Markenprodukt umfunktionieren, da scheint immer weniger Platz zu sein für eine stille Bildkunst, die über sich selbst hinausweist und auf ihrer Eigenständigkeit als metaphysischem Remedium (Heilmittel) beharrt.
Nicole Bold gelingt es, im Vertrauen auf die unerschöpflichen Mittel und Möglichkeiten der Malerei dem Sehen einen neuen Impetus (Antrieb) zu verleihen. Ihre Bildsprache hält sich frei von stilistischen Annäherungen an die Ismen unserer Zeit, um aus der Notwendigkeit des Augenblicks den geheimnisvollen Zauber unserer Welt in ein alchemistisches Konzert aus Farben, Formen und Gesten, Linien und Lasuren zu bannen. Ihre Mallust spürt den Vorstellungswelten nach, die aus den Tiefen des Bewusstseins und der Erinnerung an die Oberfläche drängen. Nicole Bolds Malerei entspringt der Verinnerlichung von Naturerscheinungen. Ihre Arbeiten erscheinen allesamt Resultate eines unprätentiösen lyrischen Versuchs, sich in abstrahierten Fragmenten die Choreografie unserer natürlichen Lebensräume zu vergegenwärtigen und sich gleichzeitig von ihr zu befreien.
Ohne imitierende Anleihen destilliert die Künstlerin aus den ephemeren Erscheinungsbildern der Wirklichkeit und der Anatomie des Gesehenen vitale Malstücke. Es entstehen biomorphe Formationen, die Geschichten erzählen können und sich doch ohne gegenständliches Signifikat frei entfalten. Es entstehen landschaftliche Konzentrate, die das Figurative vage andeuten und doch nur selten im Bildtitel die aufkommenden Assoziationen zur Gewissheit verstärken. Mit archäologischem Spürsinn schürft Nicole Bold in den Sedimenten unserer Erfahrung aus erlebter Vergangenheit und Gegenwart.
Ihre Malerei handelt vom landschaftlichen Sehen und der Naturbetrachtung. Sie handelt von Trockenheit und Nässe, Schärfe und Unschärfe, vom Zwielicht der Dämmerung und der Flüchtigkeit des Tages. Sie handelt Wahrnehmungsphänomenen und Eindrücken, von Spiegelung und Dopplung, Wiederholung und Umkehrung. Sie handelt vom Erinnern und Vergessen, Hervorbringen und Auslöschen. Und sie handelt – wie sich den Titeln der hier ausgestellten Werk entnehmen lässt – von Verflechtungen und Fäden des Lichts, von Abgelegenen Gebieten und Begegnungen im Licht,
vom Teil des Ganzen und der Stille der Auflösung

Verehrte Damen und Herren,

In unserer Medien geprägten Kommunikationsgesellschaft erscheint uns die Topographie natürlicher Lebensräume vielfach fremd geworden. Mit zunehmender Geschwindigkeit überlagern und durchdringen sich reale und virtuelle, urbane und digitale Räume. Heute sehen und beobachten wir nicht mehr die Welt an sich, sondern Bilder einer Welt, die der Monitor für uns erschafft. Die Wirklichkeit als Ereignis verschwindet. Sie wird zum variabel kontrollierbaren Abbild ihrer Bilder.

Nicole Bolds optische Sorgfalt bewahrt das Staunen über das sinnliche Ereignis der Wirklichkeit.
Sie katalysiert die Eindrücke sensibler Naturerfahrung und überträgt sie im Zusammenklang mit der eigenen Formfindungskraft in eine farbschwelgende Malerei. Ihre Bilder scheinen Tafeln für ein Weltverständnis aufzustellen, um sich im Augenblick ihres Erscheinens dem logischen Begreifen wieder zu entziehen. Mit unbeirrter Schaffenskraft entfaltet Nicole Bold die Poesie der kleinen Dinge zur großen Geste und zum eindrucksvollen Bild. Auftrumpfend wird hier die Lebenskraft einer Malerei vorgeführt, die aus den Territorien der Vernunft hinausführt, die mit ihren suggestiv abgestimmten Farbqualitäten geistige Räume eröffnet, die Fragen nach der Gewissheit unserer Seherfahrung aufwirft und die sich dadurch die Aura eines Restgeheimnisses bewahrt.

Allen Bildern von Nicole Bold ist ein Dazwischen gemeinsam. Jacques Derrida, der große Philosoph des Dekonstruktivismus, würde es als „Zone der Differenz“ bezeichnen. Diese Zone ist die Spielwiese dessen, was wir mit „Interesse“ bezeichnen: eine Zone der Neugier, des Entdeckens, des Aufdeckens und des bewussten Erkennens. In diesen Grenzräumen bewegt sich die Malerei von Nicole Bold. Eine Bildsprache ohne verabredete Bedeutungen, aber mit einem sinnstiftenden Echo. Eine Bildsprache, deren Lesbarkeit in der atmosphärischen Übertragung liegt. Eine Bildsprache, die die Welt als subjektive Wirklichkeitserfindung definiert.

Verehrte Damen und Herren,
Als Künstlerin ist Nicole Bold unvoreingenommen, neugierig, experimentierfreudig und frei in ihren gestalterischen Entscheidungen. Ohne erzählerische Wegleitung appelliert die Künstlerin an unser anschauendes Vermögen und unsere teilnehmenden Haltung, die wir uns als Betrachter von der faszinierenden Wirkkraft der sensiblen Bildplanungen angezogen fühlen. Die Botschaften, die die Künstlerin vermittelt, sind keine Nachrichten, sondern Chiffren, Hinweise auf das Wesentliche: den Facettenreichtum lebendigen Seins.

Die Bildbetrachtung, die sich aus Empfindungen und Gestimmtheiten generiert, ist niemals endgültig und absolut. Ihre Anwendung wird zum Ausgangspunkt für das Eintauchen in den weiten Ozean einer Bilderwelt, die sich an der grenzenlosen Schöpfungskraft der Natur misst.

Dazu lade ich Sie gemeinsam mit der Künstlerin nun ganz herzlich ein!

 

Dr. Sefanie Dathe, Villa Rot