Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck // Eröffnungsrede der Ausstellung „In der Natur des Lichts“ in der Städtische Galerie Engen, 2015

Eröffnungsrede der Ausstellung „In der Natur des Lichts“
im Städtischen Museum + Galerie Engen

von Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck, Städtische Galerie Tuttlingen

Engen, 22. Januar 2015

 

Nicole Bold gehört in meinen Augen zu den wichtigen Positionen der Malerei in dieser Region. Seit mehr als zwei Jahrzehnten erkundet sie in ihren Bildern mit Öl auf Leinwand die Möglichkeiten der Komponenten Farbe und Raum. Ihr Medium ist kein neues, doch vermag sie es, dem Auge des Betrachters damit eine ungewohnte Fülle zu bieten. Was sie zudem auszeichnet, ist die virtuose Leichtigkeit und dabei gleichzeitig atmosphärische Dichte ihrer Bilder, die Ausdruck und Ergebnis einer sehr ernsthaften und reflektierten Auseinandersetzung mit ihrem Medium sind. Nicole Bold ist unter den Malern eindeutig den Koloristen zuzuordnen und damit mit Delacroix, den Impressionisten und Expressionisten verwandt.
Der Prozess der schichtweisen Entstehung der Bilder kann sich bei ihr über längere Zeiträume erstrecken, die nicht nur rein praktisch Trocknungsphasen enthalten, sondern auch das Innehalten, das der gedanklichen Sedimentierung dient. Nicole Bolds Bilder sind weder abstrakt noch figürlich im klassischen Sinne. Sie malt den eigentlichen „Stoff“ der Malerei, die Farbe, zunächst mit breiten, abstrakten Pinselspuren auf die Leinwand und schafft eine Basis für die Entfaltung der Motive im Prozess der ständigen Überarbeitung. Paul Klees Diktum, dass die Kunst nicht das Sichtbare wiedergibt, sondern sichtbar macht, beschwört Nicole Bold nicht mit einer weiteren Systematik. Ihre Malerei zielt vielmehr auf den „Prozess“ der Wahrnehmung selbst. Bei diesem Vorgang fließen intuitive und kognitive Elemente in Überlagerungen und Überarbeitungen zusammen, wobei auch persönliche Erinnerungen einbezogen sind. In dieser spannungsvollen Verbindung kommt es zu der hohen energetischen Aufladung der Bilder, die sich dem Auge des wahrnehmenden Subjekts geradezu als Kraftfelder darbieten. Der schmale Grat einer Abstraktion, die immer noch gedankliche Assoziationen mit Vertrautem und Gesehenem ermöglicht und dann doch den Blick wieder vexierbildhaft ins Unbestimmte verweist, erweist sich hierbei als außerordentlich fesselnd und fruchtbar für den Betrachter, der – wenn er sich einmal eingelassen hat – unweigerlich in den Sog der Bilder gerät. Wie im Traum, ohne definierte Verortung in Raum und Zeit, scheinen Erinnerungsfetzen auf und wecken – je nach dem – Assoziationen mit Horizonten von Landschaften, Reflektionen im Wasser, Schattenflecken auf einem Weg im Wald, mit Pflanzlichem in Mikro- oder Makroperspektive sowie Unter- oder Überwasserwelten. Die Bilder umfassen den Fluss ständiger Bewegung, wucherndes Wachstum, Ferne und Weite, Licht und Dunkel.

Die Machart der Bilder verrät viel über deren Eigenart. Nicole Bold arbeitet an diesen von allen Seiten, dezentral, also ohne dass es zunächst ein Oben und Unten gibt. Einzelne Bilder entstehen über mehrere Monate und sogar bereits ausgestellte Bilder erfahren als Ergebnis eines fortdauernden Dialogs mit dem Bildgrund nochmalige Veränderungen. Besonders greifbar wird das Prinzip der Schichtung in den Malereien auf Folie, mit nochmals darüber gelegtem Transparentpapier, das wiederum bemalt ist und somit für Dichte und an den durchscheinenden Stellen für Tiefe sorgt. Manchmal trägt die Künstlerin die Farbe so flüssig auf, dass beim gezielten Anheben der Leinwand Farbläufe entstehen und so planmäßiges Handeln mit bewusster Einbeziehung des Zufälligen kombiniert wird.

Das Motiv des Farblaufs mag sinnbildlich für Nicole Bolds Malerei stehen, deren Essenz darin liegt, stets im Fluss zu sein, für eine Welt zu stehen, die permanent im Wandel ist und deren sichtbare Ausformung somit immer nur vorübergehend sein kann. Ihre Malerei ist dem Leben mit all seiner sinnlichen Pracht zugewandt und ein Angebot an den Betrachter, in ihr zu schwelgen.
Die Offenheit der Bildstrukturen und die geradezu grenzenlose Möglichkeiten der Sichtweisen sind es, die das Betrachten der Bilder Nicole Bolds zu einem Abenteuer mit offenem Ausgang, zu einer Herausforderung für die Sinne werden lässt. Das Eintauchen in diese Bildwelt bewirkt einen seltsamen Bann, der das wandernde Auge nicht zur Ruhe kommen lässt. Der serielle Rhythmus der sich ausbreitenden und übereinander schiebenden Formen erzeugt eine scheinbar auf den umgebenden Raum ausgreifende und sich fortsetzende Bewegung. Diese verbindet sich mit einem auf kompositorischen Prinzipien beruhenden Aufbau und zieht den Betrachter unmittelbar in ihren Fluss hinein. Passagenweise fühlt man sich an die rätselhaften Landschaften des Surrealismus erinnert. Der Geist bewegt sich in einer Welt, die auf eine bestimmte Art und Weise intensiver und tiefer ist als die uns umgebende Wirklichkeit, aber doch eng mit dieser verknüpft. So gibt es etwa eine Reihe von Bildern, die den Charakter des Urwaldes in sich tragen und damit Eindrücke einer Reise der Künstlerin nach Costa Rica verarbeiten. Andere Gemälde erinnern in entfernter Weise an die farblich reduzierten japanischen Naturbilder, die aufgrund ihrer Ausschnitthaftigkeit die Unendlichkeit jenseits des Bildrandes andeuten. Manchmal fühlen wir uns an den Meeresgrund mit seinen intensiv-farbigen organischen Strukturen von Algen und Riffen erinnert. Andere Bilder wiederum entwickeln in der Art ihres Aufbaus aus großzügigem rhythmischem Pinselduktus farbige Räume und naturhafte, an Felsen und Höhlen erinnernde Formationen, welche von den helleren Farben ihr Licht erhalten. Mehr oder weniger deutlich erkennbar werden Formen, die Gegenständlichkeit nahelegen, aber nie eindeutig bestimmbar werden. Geheimnisvoll bleiben auch jeweils die Quellen des Lichts.

Nicole Bold ist stets bestrebt, die Natur von innen her zu begreifen und sie in ihren immanenten Gesetzmäßigkeiten malend in eine bildnerische Formensprache zu überführen. Sie bildet die Natur nie direkt ab, sondern lässt sich von Farben, Lichtwirkungen und Strukturen der Natur anregen. Das Ergebnis ist eine Kunst, die der Naturerfahrung nicht nur entspringt, sondern ihr in ihrem quasi organischen Wachstum gleichkommt. (In diesem Punkt ist diese Malerei derjenigen Per Kirkebys nicht unähnlich). Folglich gibt die Künstlerin den Bildern auch erst nach Fertigstellung ihre Titel. Keine Art der visuellen Kunst regt die Phantasie mehr an als diese Malerei in Reinkultur, die auf die unmittelbare Kraft ihrer ureigenen Mittel setzt. Formal zeigen Nicole Bolds Bilder in dem spontanen Farbauftrag wiederkehrende Grundelemente, die Verschränkung horizontaler und vertikaler Pinselspuren und Farbverläufe zu landschaftlicher Räumlichkeit und Versatzstücke einer botanischen Formgebung. Dabei vermögen uns die verschiedenartigen Farbklänge, die sowohl gedämpft als auch zu höchsten Kontrasten gesteigert sein können, in unterschiedliche emotionale Stimmungen zu versetzen: Duftige Gelb- und Blautöne verleihen dem Bild mit dem Titel „Nichts bleibt jemals stehen“ die Aura des  Neubeginns im Frühsommer. Dramatisch ist wiederum die Stimmung in „Dunkelheit und Stille“ mit einem starken Hell-Dunkel-Kontrast. Bei „Fernab“ und „An der Oberfläche“ ist die Farbpalette reduziert und lehnt mehr dem Eindruck graphischer Bilder in Sepiatönen an. Kraftvoll, flammend leuchtend vor mystischer Dunkelheit ist wiederum das Bild mit dem Titel „In der Natur des Lichts“, das in seiner Intensität dem tropischen Regenwald gleichkommt.

Wie auch immer, die Wirkung ist stets die eines überwältigenden Farbereignisses. Der hervorgerufene Vorstellungshorizont bewegt sich zwischen expressiver Abstraktion und intensiver Landschafts- und Naturempfindung. Keine informelle Malerei aus reinem (subjektivem) Gefühl oder unbewusstem Schaffensdrang führt Nicole Bold vor, sondern eine reflektierte Entsprechung der Malerei zu den Bewegungen und Kräften der Natur. Immer wieder geht sie von der Natur aus, um ihre eigene schöpferisch-künstlerische Kraft an dieser Auseinandersetzung zu schulen und weiterzuentwickeln. Insofern erinnern ihre Bilder an das große Projekt Claude Monets, der sein lebenslanges Studium und Bemühen um eine neue künstlerische Form, die dem Naturerlebnis adäquat sein sollte, mit seinen Seerosen-Bildern und Panoramen zu einer Synthese geführt hat.

Beim gedanklichen Nachvollziehen des malerischen Prozesses lässt  ein und dasselbe Gemälde immer neue Bilder vor dem geistigen Auge aufscheinen. Wenn man eintaucht, inne hält, sich Zeit nimmt und die Gedanken auf die Reise schickt, stellt man fest, dass hier das Betrachten zum meditativen Ereignis wird. Nicole Bolds Bilder laden ein zum Eintritt in das Reich der Sinne.

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck